In der Entstehungsphase unserer Gruppe lernten wir Padre Oralino 1994 durch eine Gruppe in Grießen kennen und nahmen mit ihm Kontakt auf. Ein Jahr später besuchte er uns in Albbruck mit seinem Freund und engstem Vertrauten, dem Psychologen Valter. In vielen Gesprächen stellte er uns seine Ideen und Projekte für die Hilfe zur Selbsthilfe zu einem menschenwürdigen Leben seiner Mitmenschen in Campo Grande vor und begeisterte uns für seine Arbeit.
Padre Oralino schloss sich schon während seiner Studienzeit der Bewegung der Befreiungstheologie von Leonardo Boff an. Die Befreiungstheologie entstand im überwiegend katholischen Südamerika und machte es zur zentralen Aufgabe von Priestern, arme Menschen aus ihrer Armut zu befreien und ihnen zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen.
Padre Oralino wurde 1982 zum Priester geweiht. 4 Jahre später übernahm er die Pfarrei Cristo Rei im armen Randbezirk von Campo Grande. Hier war er für ca. 50 000 Katholiken verantwortlich. Neben seiner Tätigkeit als Priester baute er sich zuerst mit eigenen Händen ein Pfarrhaus. Danach errichtete er mit seinen Helfern ein Gemeindezentrum. In diesem neu geschaffenen Treffpunkt für die Gemeinde begann er mit seinem Freund und Mitarbeiter Valter verschiedene Kurse anzubieten. Sie sollten vor allem Frauen persönlich weiterbilden und qualifizieren, damit sie durch erwerbsmäßige Arbeit ihre Familien finanziell unterstützen und dadurch ihre Stellung in der Gesellschaft stärken können.
In diesem Gemeindezentrum wurde in den ersten Jahren auch die Gottesdienste abgehalten. 1995 begann er mit seinen Helfern eine Kirche neben dem Pfarrzentrum zu bauen.
Um seinen eigenen Lebensunterhalt finanzieren zu können arbeitete er im Ordinariat der Diözese Campo Grande mit.
Campo Grande ist die Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Mato Grosso do Sul im südlichen Teil Brasiliens. Die Bevölkerungszahl wurde im Jahr 2020 auf 906.092 Einwohner geschätzt, die auf der riesigen Gemarkungsfläche von 8100 qkm leben. Der Stadtkern bildet mit vier Universitäten, Museen, Parks und dem internationalen Flughafen das Bild einer modernen Großstadt. Dieser Stadtkern wird von einem breiten Ring aus Armenvierteln umschlossen. Entstanden sind diese Armenviertel um Campo Grande hauptsächlich durch Landflucht, da durch die Veränderung der Landwirtschaft in den neunzehnhundertsiebziger Jahren vom arbeitsintensiven Kaffeeanbau zur Viehzucht deutlich weniger Arbeitskräfte benötigt wurden.
Campo Grande als Verwaltungs- und Handelszentrum ohne nennenswerte Industrie bietet kaum Arbeitsplätze für wenig qualifizierte Arbeitssuchende.
Die Menschen wohnen in kleinen, meist armseligen Hütten. Oft versuchen die Männer mit Gelegenheitsjobs, vielfach weit weg, ihre Familien zu ernähren. Wer das Glück hat in anderen Regionen eine feste Arbeit zu finden, zieht wieder weg. Zehntausende, davon viele Kinder, leben in tiefer Armut und haben keine Zukunftsperspektive.
Im Jahre 1986 übernahm Padre Oralino als Priester und Befreiungstheologe die Pfarrei Cristo Rei in Cophaville, einem Armenviertel am südlichen Stadtrand von Campo Grande. Padre Oralino war es ein zentrales Anliegen, den Frauen und ihren Kindern zu helfen.
Viele von ihnen lebten hier unter miserablen Bedingungen ohne ihre Männer, die als Gelegenheitsarbeiter, zum Teil weit weg, auf Arbeitssuche waren, oder ihre Familien im Stich ließen und verschwanden.
Diesen Frauen bot Padre Oralino mit Hilfe seines Freundes, dem Psychologen Valter eine breite Palette von Kursen an, um ihre Lebenssituation zu verbessern. Valters war in der gesamten Arbeit wichtiger Ideengeber und er machte es sich zur Aufgabe, neue MitarbeiterInnen zu gewinnen und sie für die Arbeit mit Erwachsenen und Kindern zu qualifizieren. So entstand nach und nach ein Helferteam, das mit einem breiten Angebot von Kursen vielen Menschen eine neue Perspektive vermitteln konnte.
Ein wichtiger Bereich war die Verbesserung von Hygiene und Gesundheit durch Anleitungen wie:
Weiter wichtige Kursthemen waren Handarbeiten wie:
An mehreren Computerplätzen wurden Kenntnisse in der Datenverarbeitung vermittelt.
Ein weiteres wichtiges Projekt war die Gemüsegärtnerei.
Neben seinem Gemeindezentrum pachtete Padre Oralino ein großes städtisches Grundstück und legte mit fachmännischer Hilfe einen Garten an, in dem Gemüse, Obst und Kräuter aller Art angepflanzt wurde. Günstige klimatische Bedingungen und ein nährstoffreicher Boden lassen mehrere Ernten im Jahr zu. Die Gartenfrüchte wurden den armen Familien angeboten. Dabei wurden Frauen auch angeleitet, bei ihren Hütten einen eigenen Garten anzulegen. Durch dieses Projekt konnte ein weiterer Beitrag zur Selbstversorgung und gesünderen Ernährung der Familien in diesem Armenviertel geleistet werden.
Das zentrale Anliegen war für Padre Oralino die Betreuung und Versorgung der Kinder und Jugendlichen. Durch die große Armut und Perspektivlosigkeit gab es viele verwahrloste Straßenkinder, die keine Schule besuchten und oft mit Drogen konsumierten. Um diese kümmerte sich Padre Oralino mit seinem Helferteam besonders. Im neu geschaffenen Gemeindezentrum fanden diese Kinder eine Anlaufstelle zur Unterstützung einer gesunden Entwicklung und der Begleitung in schulische Bildung. Hier wurden tägl. 100- 150 von ihnen mit warmem Essen versorgt, dessen Zutaten teilweise aus dem eigenen Gemüsegarten stammten.
Mit der Wahl von Luiz Inácio Lula da Silva von der Brasilianischen Arbeiterpartei zum neuen Präsidenten von Brasilien im Jahre 2002 veränderte sich einiges zum Positiven. So bekamen Eltern, die ihre Kinder in die Schule schickten und nicht zum Arbeiten oder Betteln auf die Straße, eine finanzielle Unterstützung. In den Schulen bekamen alle Kinder ein warmes Mittagessen. In einem umfangreichen Programm wurden viele kleine, einfache Häuser gebaut, um die Wohnsituation der Armen deutlich zu verbessern.
Durch Krankheiten, hauptsächlich hervorgerufen durch Unter- und Fehlernährung, gab es in den Armenvierteln eine erhöhte Kindersterblichkeit. Auch dieses Problem ging Padre Oralino an. In Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt entwickelte er ein Programm um den Kindern eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen. In einem eigens dafür eingerichteten und ausgestatteten Produktionsraum wurden mehrere Getreideprodukte wie Mais, Soja und Weizen getrocknet und gemahlen. Diese Mischung wurde mit Vitaminen angereichert, portioniert und verpackt. Hier fanden einige Frauen Arbeit und Einkommen. Wenn nun ein Arzt bei Kindern Unterernährung feststellte, wurde den betroffenen Familien vom Gesundheitsamt dieses Nahrungsergänzungsprodukt zugeteilt. Durch diese Maßnahme konnte die Kindersterblichkeit, die durch Unterernährung verursacht wurde, nahezu auf null reduziert werden.
Valter, der engste Freund und Mitorganisator der vielen Projekte und Kurse, erwarb ganz in der Nähe des Gemeindezentrum Räumlichkeiten und richtete dort eine Bäckerei ein. Er betrieb sie mit einigen angestellten Frauen 6 Jahre lang. Durch die mangelnde Kaufkraft seiner Kunden entwickelte sich der finanzielle Erfolg jedoch sehr bescheiden.
Im Jahr 2006 gab es eine grundlegende Veränderung. Padre Oralino wurde von seinem Bischof aus der Pfarrei Cristo Rei abberufen und ins Ordinariat der Diözese Campo Grande versetzt. Dort war er dann für Bauwesen und Verwaltung zuständig.
In der Pfarrei Cristo Rei hatte der Nachfolger von Padre Oralino an dessen Arbeit für die Hilfe zur Selbsthilfe der Armen jedoch kein Interesse und somit standen auch die Räumlichkeiten nicht mehr zur Verfügung.
Damit die vielen Menschen, die ihre Lebensumstände in den Projekten von Padre Oralino deutlich verbessern konnten, nicht einfach sich selbst überlassen werden mussten, wurden all seine Tätigkeiten kurzerhand in die zwischenzeitlich leerstehenden Räume der Bäckerei verlegt. Dort führt er nun seine Kurse mit seinem verlässlichen Helferteam mit großem Erfolg bis heute weiter.
Nach der Versetzung ins Ordinariat, das sich in einem Bezirk der Innenstadt befand, wollte Padre Oralino aber weiterhin als Priester und Helfer für die Menschen da sein. Daher half er in Jardim Noroeste, einem weiteren Armenviertel in den Außenbezirken von Campo Crande mit. Es ist das ärmste aller Viertel, sehr großflächig angelegt, dünn besiedelt und geprägt von hoher Kriminalität.
Hier baute sich Padre Oralino 2006 mit Spendengeldern aus Albbruck ein einfaches Gebäude, das Zusammenkünfte aller Art ermöglichen sollte. Auch hier bot er seine Kurse an, die anfangs nur zögerlich angenommen wurden. Ein weiteres Problem war, dass es ihm nur schwer gelang Frauen als Kursleiterinnen zu gewinnen die es wagten, dieses Viertel zu betreten. Die ersten Erfolge gelangen ihm mit Jugendlichen. Für sie schaffte er Computer an, stellte einen Lehrer ein und begeisterte sie für diese Ausbildung. Er bekam sie durch dieses Angebot von der Straße weg und ermöglichte ihnen damit gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Mit der Zeit fassten auch mehr Frauen Vertrauen und belegten die anderen Kurse.
Auch kamen neue Kurse dazu:
Für Kinder und Jugendliche bot er in Jardim Noroeste Pfadfindergruppen an. Sein Ziel ist es, den Jugendlichen mit erlebnispädagogischen Projekten, und in Gruppenarbeiten Vertrauen, Verantwortung und soziales Verhalten zu vermitteln und erfahrbar zu machen.
Mit seinen Kursen konnte Padre Oralino mit seinem Helferteam vielen Frauen schon viel helfen. Mit den hier gelernten Fähigkeiten konnten sie in Heimarbeit viele nützliche Produkte herstellen und auf den Märkten der Innenstadt verkaufen. Mit dieser Arbeit leisteten sie einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität ihrer Familien. Außerdem wurde den Frauen durch diese Erfolge ein neues Selbstwertgefühl vermittelt, das sie ein Stück weit aus ihrer Resignation und Lethargie führte.
2014 gab es für Padre Oralino persönlich, für seine Arbeit in den Armenvierteln und auch für uns einen schmerzlichen Rückschlag. Valter, sein Freund und wichtigster Mitgestalter wurde bei einem Überfall getötet. Aber auch dadurch ließ sich Padre Oralino nicht entmutigen und arbeitet unermüdlich und mit großem Einsatz bis zum heutigen Tag weiter für bessere Lebensverhältnisse der vielen Menschen in Campo Grande.